Es sind verheerende Ergebnisse, die uns bei der Veröffentlichung der letzten IGLU-Studie am 16. Mai 2023 zum Lesevermögen deutscher Schulkinder präsentiert wurden. Schüler der vierten Klasse lesen schlechter als noch vor fünf Jahren. Ein Viertel der Kinder erreicht beim Lesen nicht den international festgelegten Mindeststandard, der für das weitere, erfolgreiche Lernen nötig wäre.
Eine weitere erschreckende Zahl: 39 Prozent der Ein- bis Achtjährigen wird selten oder nie vorgelesen. Und Smartphones, Tablets oder Spiele-Konsolen sorgen zunehmend dafür, dass die Aufmerksamkeitsspanne vieler Kinder immer kürzer wird.
Lesenlernen hat oft weniger mit der Intelligenz zu tun als mit der Bewältigung von Ängsten. Und so ist es kein Wunder, dass viele Kinder blockieren und verunsichert sind, wenn sie ihren Lehrern oder Eltern etwas vorlesen müssen. In diesen Fällen hilft die sogenannte „Tiergestützte Förderung“. Denn aus der Forschung ist schon lange bekannt, dass zum Beispiel Hunde bei Kindern die soziale Integration erhöhen und das Selbstwertgefühl steigern können.
Wenn Kinder einem Hund etwas vorlesen, wird die Umgebung unwichtig. Sie entspannen sich und konzentrieren sich nur noch auf den Zuhörer mit den sanften Pfoten. Die Projekte „Lesehunde“ der JOHANNITER Unfallhilfe und die „BookBuddies“ setzen genau da an.
Lesehund Luna liebt es, wenn Kinder ihr vorlesen
Vierbeiniger Teil des Lesehund-Teams ist die Luna. Die Labradordame liebt es, wenn Kinder ihr etwas vorlesen. In entspannter, freundlicher und ruhiger Atmosphäre lauscht die Fellnase geduldig den Worten. Luna unterbricht und verbessert nicht. Sie bewertet nicht und vergibt auch keine Noten. Der Leistungsdruck, den die Kinder beim Vorlesen im Klassenzimmer verspüren, fällt komplett weg. Die Kinder können sich entspannen und gewinnen somit immer mehr Sicherheit beim Lesen.
Der menschliche Teil des Lesehund-Teams spielt aber auch eine wichtige Rolle. Viele Kinder kennen es nicht, die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Erwachsenen zu haben. Dass sie jetzt im Mittelpunkt stehen und etwas Besonderes nur für sich selbst haben. Diese wichtige Erfahrung stärkt das Selbstvertrauen der Kinder.
Etwa 20 Minuten dürfen die Kinder ihren „Nachhilfe-Tieren“ vorlesen, dann geht es zurück in die Klasse. Aber nicht, bevor der Pfoten-Sticker in den Lesepass geklebt wurde. Und wer alle Aufkleber gesammelt hat, bekommt am Ende des Schulhalbjahres ein Buch geschenkt.
Luna ist eines von insgesamt 15 ehrenamtlichen Lesehund-Teams, die seit vier Jahren in Potsdam und Umgebung in zehn Schulen und in einem Hort unterwegs sind. Laut Inga Berger, Ehrenamtskoordinatorin beim Regionalverband, ist „der Bedarf hoch“. „Wir haben nicht genug Plätze für alle Kinder, die infrage kommen.“ Die JOHANNITER bilden die Lesehund-Teams selbst aus, coachen und zertifizieren sie regelmäßig. Nur aus einem Grund, wie Inga Berger sagt: „Wir möchten, dass die Kinder die bestmögliche Förderung erhalten.“
Teams wie dieses gibt es nicht nur im Regionalverband Potsdam, sondern auch in Brandenburg-Nordwest, in Berlin, Hamburg-Harburg oder Nürnberg.
Auch Katzen sind geduldige Zuhörer
Aus den USA stammt die Idee, dass Kinder Katzen vorlesen und so besser im Lesen werden. „BookBuddies“ heißt dieses clevere Projekt, bei dem jetzt auch viele Tierheime hierzulande unter dem Motto „Kinder lesen Katzen vor“ mitmachen.
So können zum Beispiel im Tierheim Berlin Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren regelmäßig einmal pro Woche für 30 Minuten in entspannter Atmosphäre und in eigenem Tempo lesen üben. Und dabei sind sie nicht alleine, sondern haben geduldige und aufmerksame Zuhörer: die Katzen des Tierheims. Eine Sprecherin sagt, dass es sich bei diesem Projekt um eine „Win-Win-Win-Situation“ handelt.
Zum einen für die Kinder, weil sie ohne Druck lesen üben können und dabei noch viel über Katzen, Tierschutz sowie über Tiere im Allgemeinen lernen. Zum anderen für die Katzen. Denn Studien haben herausgefunden, dass rhythmische menschliche Stimmen auf Katzen entspannend und beruhigend wirken. Und das ist für viele der schnurrenden Bewohner sehr wichtig, denn viele haben zuvor schlechte Erfahrungen gemacht. Sie brauchen viel Zuwendung, damit sie wieder Vertrauen zu Menschen fassen können.
Auch das Tierheim profitiert davon – da eine freundliche Katze, die Menschen und Kinder gewohnt ist, schneller ein neues Zuhause findet. Mittlerweile kann sich das Berliner Tierheim vor interessierten Anfragen fürs Vorleseprojekt mit den Katzen kaum retten.



